Dienstag, 2. August 2016
Der Boss
Nach dem ersten Band „Der Fuchs“ wird hier nun der zweite Band mit dem Titel „Der Boss“ von Jörg van Damme vorgestellt. Auch dieser Krimi verspricht echten Lesespaß, denn er ist bis zum Schluss spannend geschrieben und schildert das Milieu des sogenannten Bermuda Dreiecks in der Ruhrmetropole Bochum. Eine rumänische Gang hat es darauf abgesehen, hier einzudringen und mindestens eine Übernahme zu vollziehen. Aber hier erst mal wieder die Kurzbeschreibung des Romaninhaltes:

Im Bochumer Rotlichtviertel Bermuda-Dreieck führt Emil Ellermann ein hartes Regiment über seine Männer, die ihm aufs Wort gehorchen. Sein Edelbordell „Amore“ ist der Mittelpunkt aller seiner Aktivitäten. Von dort aus lenkt Ellermann, genannt „Der Boss“, seine sämtlichen Aktivitäten, die sich über die Geschäftsfelder Prostitution, Schutzgelderpressung, Waffen- und Mädchenhandel erstrecken. Ein rumänischer Clan schmiedet in Bukarest den Plan, in das ertragreiche Bochumer Bermuda-Dreieck einzudringen und den Ellermann-Clan zu übernehmen. Bei den Vordringungsversuchen geraten die Rumänen wiederholt der Polizei ins Netz. Der aus Siebenbürgen stammende hartgesottene Deutsch-Rumäne Ivo Patschick wird dann vorgeschickt, um die Übernahme endlich voranzutreiben.



Und hier nun die Leseprobe:

Bochum.
Laut und unüberhörbar peitscht ein Schuss durch die ansonsten ruhige Nacht. Dieser Schuss zerreißt die Stille, die bis jetzt über der Ruhrgebietsstadt lag. Nun tritt Unruhe im Wohngebiet neben dem Güterbahnhof ein. An verschiedenen Fenstern zeigt sich Licht. Besorgte Bürger springen aus dem Bett und sehen nach, was da wohl geschehen sein könnte, aber die schwarz verhangene Nacht gibt ihnen die Sicht nicht frei. Außerdem sind die aus ihrem Schlaf gerissenen Bewohner dieser Gegend vom eigenen Licht so geblendet, dass es ihnen nicht möglich ist, draußen etwas zu erkennen.
Paul Ebert, ein älterer aufgeregter Pensionär, der ohnehin schlecht schlafen kann, schreckt hoch. Er steht schnell auf, schlüpft in seine Pantoffeln und geht zum Telefon hinüber, das sich auf einem kleinen Tischchen in der Nähe seines Bettes befindet. Er greift zum Hörer und wählt geistesgegenwärtig die 110, den ihm bekannten polizeilichen Notruf.
„Hier ist die Polizei. Was kann ich für sie tun?“
„Hallo, hier ist gerade ein Schuss in der Straße gefallen.“
In seiner Aufregung formuliert Ebert allerdings nicht alles so, wie es der aufnehmende Polizeibeamte gerne gehört hätte, um genau im Bilde zu sein.
Ebert meldet dem fragenden Beamten am anderen Ende der Leitung zwar den soeben gehörten Schuss, kann aber über Einzelheiten leider keine Auskunft geben. Bei kurzer Nachfrage erfährt der Polizeibeamte wenigstens noch Paul Eberts Namen und dessen Adresse.
„Herr Ebert, bewahren sie bitte Ruhe und zeigen sie sich nicht am Fenster. In wenigen Minuten sind meine Kollegen vor Ort und klären den Sachverhalt.“
Der nachtdiensthabende Polizeibeamte schaut auf die Uhr. Seine Telefonanlage hat den Anruf exakt um 23.37 Uhr aufgezeichnet. Schnell schaltet er sich an seinem Pult in eine andere Leitung, mit der er sofort die diensthabende Kriminalwache erreicht.
„Was gibt’s“, fragt der angerufene Kollege, dem klar ist, dass damit die nächtliche Ruhe im Revier vorbei sein dürfte.
„Ein Notfall in der Nähe des Güterbahnhofs. Dort fiel ein Schuss. Ein besorgter Anwohner hat mir das soeben gemeldet. Schaut mal nach, was dort los ist.“
Und dann gibt der Mann der Leitstelle dem Kollegen der Kriminalwache den Namen des Anrufers und dessen exakte Adresse durch.
„Danke, Kollege. Wir machen uns sofort auf den Weg.“
Der Leiter der Kriminalwache und zwei weitere in Bereitschaft stehende Beamte greifen zu ihren Dienstwaffen, ziehen ihre dicken Jacken über und begeben sich eilenden Schrittes hinaus zu ihrem Funkwagen.
Es ist eine nicht ganz so angenehme Nacht, die das Ruhrgebiet umhüllt. Leichter Nieselregen tropft auf die Stadt herab. Hier und da bilden sich kleine Pfützen, in denen sich die Leuchtreklamen spiegeln. Wer nicht gerade mit seinem Hund mal vor die Haustür muss, der bleibt besser daheim in seiner warmen Wohnung. Um diese späte Stunde ohnehin. Höchstens Spätheimkehrer, die aus einem Lokal kommen und nach Hause wollen, trauen sich auf die Straße. Notgedrungen.
Der Funkwagen fädelt sich mit laufendem Blaulicht schnell in den fließenden Verkehr ein. Hier und da, wo es dem Lenker des Wagens als notwendig erscheint, betätigt er das Martinshorn, um bestimmte Kreuzungen unfallfrei und ohne Verzögerung passieren zu können. In rasender Fahrt nähert sich der Funkwagen der angegebenen Adresse.
Der Streifenwagen hält an. Die Beamten entsteigen ihrem Fahrzeug und versuchen in der Dunkelheit etwas auszumachen. Ihre Bemühungen werden nicht belohnt. Sie schauen in alle Richtungen, entdecken aber nichts.
Da meldet sich der Führer der Gruppe.
„Leute! Hier werden wir kaum etwas finden. Zwar hat ein Einwohner einen Schuss gehört, aber er konnte uns leider nicht angeben, aus welcher Richtung der kam. Wir müssen uns etwas im weiteren Umkreis umschauen. Ausschwärmen! Haltet bitte Kontakt untereinander und zu mir über Funk. Die Frequenz ist euch ja bekannt.“
Lautlos entfernen sich die beiden Beamten in verschiedene Richtungen. Sie nähern sich von unterschiedlichen Seiten dem benachbarten Güterbahnhofsgelände. Hier werfen wenigstens in regelmäßigen Abständen Laternen ihr schwaches Licht auf die Gleise. Aber zu erkennen ist da auch nicht viel. Die abgestellten Güterzüge und einzelne Waggons sind alles, was die Beamten erspähen. Keinerlei besondere Auffälligkeiten. Sie arbeiten sich näher an die Waggons heran.
Da entdeckt einer der Beamten einen reglosen dunklen Körper zwischen zwei Güterwagen, gleich auf dem vordersten Gleis. Er geht mit gezogener Waffe, sich dabei sichernd immer wieder umschauend, auf das Objekt zu.
Als er endlich die bewusste Stelle erreicht hat, sieht er, dass es ein Toter ist, der da vor ihm liegt. Zur Vorsicht tastet er nach der Halsschlagader, um zu prüfen, ob nicht doch noch etwas Leben in dem Mann steckt, muss aber feststellen, dass seine erste Wahrnehmung die richtige war. Der Schuss muss sofort tödlich gewesen sein, denn von einem weiteren ist nichts bekannt.
Er greift zu seinem Funkgerät und meldet seine Erkenntnis seinen beiden Kollegen, die nun wissen, wo sich ihr dritter Mann befindet und eilen zu ihm.
„Nichts anfassen. Ich rufe den Arzt und die Spurensicherung“, meldet sich der Leiter der Nachtwache, Oberkommissar Erwin Peters, über die verabredete Frequenz.
„Bin gleich bei euch.“
Die Männer der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle, kurz KTU genannt, sind 15 Minuten später vor Ort. Fast zeitgleich trifft der Polizeiarzt ein und nimmt seine erste Untersuchung vor.
„Ein glatter Herzdurchschuss“, gibt er seine erste Erkenntnis von sich. „Soweit ich feststellen kann, offenbar aus nächster Nähe abgefeuert. Die Kugel ist hinten wieder ausgetreten.“
Die Todeszeit steht ohnehin fest und bedarf keiner besonderen Rückrechnung, denn der Zeitpunkt des Anrufes ist im Polizeipräsidium auf Tonband festgehalten.
In den Taschen des Toten entdeckt der Arzt nur unwesentliche Gegenstände, wie ein Taschentuch, ein Feuerzeug, eine Schachtel Zigaretten Marke „Lucky Strike“ und eine Geldbörse, die lediglich 12,50 € enthält. Ein Personalausweis ist nicht vorhanden.
„Das sieht mir hier nicht nach einem Raubmord aus, denn der Tote scheint seinem Aussehen nach nicht mit Reichtümern gesegnet gewesen zu sein. Sieht eher wie eine Exekution aus, zumal der Schuss, so wie es sich mir darstellt und ich es bereits sagte, aus kürzester Entfernung abgegeben worden sein muss. Die Kugel ist hinten wieder ausgetreten, war am Fundort aber nicht aufzufinden. Später mehr, wenn ich den Mann auf meinem Tisch habe.“
Eine erste kurze Einschätzung des Polizeiarztes, die er da verkündet.
Ein Bestatter wird beauftragt, die Leiche zunächst in die Pathologie zu schaffen, damit dort die notwendige Autopsie durchgeführt werden kann. Mehr ist vor Ort nicht zu tun. Der Tatort ist durch Fotos, die auch über die genaue Lage des Toten später Auskunft geben können, soweit gesichert. Den Rest erledigt die Spurensicherung, kurz Spusi genannt.
Um die Leiche zu identifizieren, hat die Spusi noch am Tatort Fingerabdrücke dem Toten abgenommen. Man vermutet, dass es sich um einen Gangster handelt, der aus irgend einem Grund dem Clan, dem er vermutlich angehörte, aus dem Ruder gelaufen ist. Was sonst soll ihn ausgerechnet in die unwirtliche Gegend des Güterbahnhofes getrieben haben? Bei dieser Wetterlage können es nur liebe Kollegen von ihm gewesen sein, die sich erhoffen, dass der leichte Regen so manche Spur verwischt.
Falsch gedacht.
Der Spurensicherung entgeht nichts. Mit größter Akribie bemüht sie sich stets, alles ans Tageslicht zu befördern, was es überhaupt nur zu entdecken gibt. So auch in diesem speziellen Fall, der vorerst noch einige Rätsel den Beamten auf gibt.
„Wenn der Körper des Toten einen glatten Durchschuss erlitten hat“, meldet sich einer der Spusi-Männer, „dann müsste hier irgendwo ein Projektil zu finden sein. Ich kann aber keines finden. Mir scheint eher, man hat den Toten hier nur abgelegt, um vom eigentlichen Tatort, der sich ganz wo anders befindet, abzulenken. Da sollte die Körpertemperatur doch noch einmal genauer untersucht werden. Vielleicht lassen sich daraus zeitliche Abläufe errechnen.“
Oberkommissar Peters greift diesen Hinweis sofort auf und telefoniert dem bereits abgerückten Arzt hinterher, um ihn auf die neue Erkenntnis aufmerksam zu machen.
„Habe verstanden. Schaue mir gleich morgen früh den Leichnam genauer an. Heute wird das nichts mehr. Ich bin jetzt müde. Der Tote läuft mir ja nicht weg.“
Peters hätte gerne ein schnelles Ergebnis vom Arzt über den möglichen Todeszeitpunkt erhalten, versteht aber dessen Einwand und akzeptiert ihn. Er ist selbst müde und hofft, dass seine Schicht bald um ist. Sollen doch die Kollegen von der Frühschicht den Fall weiter bearbeiten, denkt er.
„Abrücken!“ befiehlt er seinen Männern.
Lediglich die Kollegen der Spurensicherung sind trotz des Regens weiter damit beschäftigt, mögliche Spuren zu sichern. Viel ist es allerdings nicht, was sie bisher gefunden haben. Die Fingerabdrücke müssen später ausgewertet werden. Vielleicht spuckt der Computer bei einem Durchlauf den richtigen Kandidaten aus.
Am anderen Morgen beginnt ein reges Treiben im Präsidium. Die Beamten nehmen sich des nächtlichen Falles an und tragen alle Fakten zusammen, die ihnen bislang bekannt sind. Viel ist es nicht. In der Frühbesprechung werden alle Erkenntnisse noch einmal kurz zusammengefasst und durchgesprochen.
Der Verdacht der Spurensicherung, dass der tote Körper auf dem Gleis des Güterbahnhofes nur abgelegt worden ist, hat sich inzwischen bestätigt. Dazu passt die Aussage des Arztes, dass der Tod nicht um die Zeit des abgegebenen Schusses eingetreten sein kann, sondern bereits etwa zwei Stunden zuvor. Das passt wiederum mit den vorhandenen Totenflecken und dem Blutverlust zusammen, denn Blut war am Fundort so gut wie keines zu finden. Der relativ leichte Regen hätte in der Kürze der Zeit nicht soviel Blut, wie hätte ausgetreten sein müssen, weg waschen können.
„Dann war der Schuss, den die Anwohner gehört haben, lediglich ein Schuss in die Luft, um vorzutäuschen, das Verbrechen habe sich am Bahndamm ereignet“, meldet sich Hauptkommissar Lauter zu Wort, dem inzwischen klar geworden ist, dass der Güterbahnhof nicht der eigentliche Tatort sein kann.
„Damit ergibt sich die Frage, wo der Tote exekutiert worden ist“, wirft ein anderer Beamter ein.
„Die Zeit zwischen der Ermordung und des Auffindens der Leiche lässt darauf schließen, dass der Mann vermutlich irgend wo in der Innenstadt erschossen und später zum Güterbahnhof abtransportiert worden ist. Anders lässt sich der Schuss nicht erklären, der jedenfalls nicht auf dem Bahngelände auf den Mann abgegeben worden sein kann“, gibt ein weiterer Kripobeamter zu bedenken.
Da meldet sich ein jüngerer Beamter zu Wort, der bislang an seinem Computer damit beschäftigt war, die dem Toten abgenommenen Fingerabdrücke durch ein spezielles Programm zu jagen.
„Bingo! Ich habe den Kerl identifiziert. Es handelt sich um einen Kleinkriminellen mit einem tapetenlangen Vorstrafenregister. Er stammt aus der Szene und ist Handlanger von Emil Ellermann, der unter dem Namen 'Der Boss' bekannt ist. Ellermann beherrscht bei uns den Drogenmarkt, mischt aber auch in allen anderen Branchen mit, in denen es Geld zu verdienen gibt, egal ob Prostitution in größerem Stil, Schutzgelderpressung oder Verkauf von illegalen Waffen. Er lässt da nichts aus.“
„Super, Leute“, lässt sich der Einsatzleiter, Polizei-Hauptkommissar Ernst Lauter, vernehmen, „dann haben wir jetzt wenigstens einen Ansatzpunkt. Ich mache darauf aufmerksam, dass Ellermann sehr gerissen und äußerst gefährlich ist. Wer dem zu nahe kommt, hat große Probleme. Möglicherweise hat unser Toter da etwas zu eigensinnig gehandelt und ist dadurch dem Boss in die Quere gekommen. Und der spaßt da nicht lange mit herum. Ob da ein Mann weniger in seiner Mannschaft herum hampelt oder nicht, das ist dem Kerl völlig egal. Der kennt keine Skrupel und macht nicht langes Federlesen. Jetzt müssen wir nur noch heraus bekommen, wo die Tat geschehen ist. Das wird nicht so leicht sein, denn das könnte überall der Fall gewesen sein. Und über Handlanger, die grausige Taten auszuführen bereit sind, verfügt er zu Genüge.“
Ein anderer Beamter der Dienststelle meldet sich zu Wort und schlägt vor, sich erst einmal vorsichtig in der Szene umzuhören.
„Wie ihr alle wisst, ist dem Boss bisher nichts nachzuweisen gewesen. Selbst die Jungs vom Drogendezernat haben sich an ihm schon seit Jahr und Tag die Zähne ausgebissen. Das ist eine harte Nuss, die wir da zu knacken haben. Und bewaffnet ist er auch. Vielleicht hat er jetzt einen entscheidenden Fehler begangen, der uns weiter hilft.“
„Also“, ergreift der Dienststellenleiter erneut das Wort, „ihr wisst jetzt, was zu tun ist. Ran an die Arbeit.“
Das war der Befehl an seine Leute, mit der Spurensuche zu beginnen. Man will dem Boss endlich das Handwerk legen.
Jeder Beamte, der in irgend einer Weise Kontakt zu einem Kriminellen in der Szene hat, ist jetzt dabei, seine Bekannten anzusteuern und auszuhorchen.
Irgend wo muss es ein Leck geben, dass dem Boss zum Verhängnis werden könnte.
Die Jagd auf den König der Szene hat begonnen.
Unauffällig streifen wenig später mehrere Kriminalbeamte durch die Innenstadt. Ziel ist das Szeneviertel, das Bermuda-Dreieck, in dem die meisten Informanten herum lungern. Denen kommt viel zu Ohren, was für die Polizei sehr wichtig sein kann. Nur darf keiner mitbekommen, dass ein Informant mit einem Kriminalbeamten spricht. Das könnte dem Boss zu Ohren kommen und hätte unabsehbare Konsequenzen.
Wenn es zu einem Kontakt kommen soll, lotst man sich in eine dunkle Ecke, um ungesehen und ungestört mit dem Beamten Neuigkeiten auszutauschen. Sie geben diese Informationen nicht an die Polizei weiter, um sofort Belohnung zu kassieren, sondern erhoffen sich für später, dass sie, falls man sie selbst einmal erwischt, bevorzugte Behandlung erfahren.
Eine Rückversicherung kann nie schaden.
So sieht es auch Gorki, ein Russe, der diesen Spitznamen trägt, weil er so belesen ist. Diesen Spitznamen hat man ihm irgend wann einmal angehängt und den wird er auch so schnell nicht wieder los. Gorki hat sich daran gewöhnt. Ihn stört es nicht weiter. Seinen richtigen Namen kennt ohnehin niemand, zumal er für deutsche Zungen fast unaussprechlich ist. Es reicht ihm, dass er wenigstens richtig geschrieben auf seinem Personalausweis vermerkt ist.
Gorki spricht gut Deutsch, wenn auch mit Akzent, lebt schon längere Zeit in dieser Stadt und fand auch irgend wann Anschluss an den Ellermann-Clan. Das war für ihn keine besondere Leistung, denn auf einen in der Szene sich herumtreibenden Neuen stellt man sich dort schnell ein. Und schon saß er in den Fängen des Bosses fest. Für irgend etwas ist er ihm alle mal gut.
Nun ist Gorki natürlich kein Dummer. Er ist intelligent genug, um zu wissen, dass gute Beziehungen zur Polizei durchaus zum Vorteil gereichen können, zumal in seinem Fall, wo er doch schon so oft mit der Polizei in Kontakt geraten und stets vor dem Gericht gelandet ist. Also hat er sich gelegentlich bei einer seiner Vernehmungen mit einem bestimmten Beamten etwas angefreundet. Nicht so, was man allgemein so unter Freundschaft versteht. Nein, es ergab sich bei einer seiner Vernehmungen, dass er dem fragenden Beamten anbot, ihm bei Gelegenheit Informationen zuzuspielen, soweit es ihm überhaupt möglich ist. Das Angebot wurde dankbar angenommen.
Auch wenn es Gorki in der damaligen Vernehmung nicht weiter half, so hat er sich doch mit seinem Zugeständnis wenigstens für die Zukunft ein kleines Tor Richtung Staatsgewalt aufgestoßen. Und der betreffende Beamte – es war Polizei-Hauptkommissar Ernst Lauter – hat da zugegriffen. Es kann auch für einen Polizisten nicht schaden, gewisse Kontakte zur Szene zu haben und zu pflegen. Das kann zu gewissen Zeiten unheimlich nützlich sein, an Informationen zu gelangen, die sonst niemandem zugänglich sind.
Ein solcher Tag ergibt sich heute. Lauter erinnert sich seines Kontaktmannes und begibt sich in die Gegend, in der er Gorki vermutet. Gorki hat die Angewohnheit, sich stets im Umfeld eines ihm besonders gut bekannten Automaten-Spielsalons aufzuhalten. Lauter weiß zwar nicht warum, aber es ist so. Vielleicht spielt er gerne, um sein Taschengeld etwas aufzubessern. Aber das allein kann auch nicht der Grund sein, denn derartige Geldautomaten haben die blöde Angewohnheit, stets mehr zu schlucken als auszuspucken. Und so reich ist Gorki nun auch wieder nicht, als dass er sich das über eine längere Strecke leisten könnte. Das dürfte auch Gorki inzwischen bemerkt haben.
Lauter lenkt seine Schritte in die Richtung des ihm bekannten Automaten-Spielsalons.
Langsam geht er die Straße, in der die Spielhalle liegt, entlang. Er verhält sich unauffällig, schaut sich aber von Zeit zu Zeit um, ob er nicht irgend wo seinen Informanten entdecken kann. Ihn möchte er unbedingt finden. Der bleibt vorerst aber unsichtbar.
Lauter überlegt, ob sich Gorki vielleicht gar nicht mehr in der Gegend befindet, weil er wegen irgend einer kriminellen Geschichte unterwegs ist. Aber da täuscht er sich. Gerade tritt Gorki aus einem Zeitschriftenladen heraus und will mit der soeben erworbenen Sportzeitung, die er wegen der frischen Fußballergebnisse gekauft hat, die Straße überqueren. Er erblickt sofort den Polizeibeamten in Zivil und vermutet, dass dieser mal wieder auf der Suche nach Neuigkeiten ist. Schließlich weiß er, dass es in der vergangenen Nacht einen Toten in der Szene gegeben hat. Und er kombiniert sofort, dass Lauter vermutlich in dieser Richtung auf Ermittlungstour ist.
Unauffällig langsam schlendert Gorki über die Straße, den Beamten immer im Blickfeld behaltend. Er bemerkt, dass ihm Lauter ein fast unsichtbares Zeichen mit dem linken Arm gibt. Das bedeutet, dass er ihn sprechen möchte.
Auf offener Straße funktioniert das aber nicht, deshalb steuert Gorki einen Durchgang zu einem Hinterhof an. Lauter folgt ebenfalls langsamen Schrittes. Als er an dem Durchgang vorbei geht, biegt er blitzschnell ein und verschwindet unsichtbar für andere Straßenpassanten.
Gorki ist im Durchgang stehen geblieben und erwartet seinen Gesprächspartner. Lauter geht auf ihn zu und reicht ihm die Hand. Es sieht unverfänglich aus, als träfen sich zwei alte Freunde. Nur kein Aufsehen erregen, heißt die Devise für beide.
„Na, Gorki, wie geht’s dir, alter Sportsfreund?“
Lauter duzt Gorki einfach, eröffnet so das Gespräch und hofft, dass Gorki auf ihn genauso eingeht. Und er tut es. Allerdings hat er vor seinem Gegenüber einen gewissen Respekt und bleibt bei dem förmlichen „Sie“.
„Hallo, kann nicht klagen“, lässt er sich vernehmen.
„Sage mal“, fragt Lauter dann weiter, „was war denn heute Nacht bei euch los?“
Das ist für Gorki die Bestätigung, dass Lauter etwas über den Toten erfahren möchte.
„Was soll schon groß los gewesen sein“, fragt Gorki zurück. Er ist vorsichtig und will erst einmal heraus finden, worauf der Beamte wirklich hinaus will.
„Na du weißt schon. Heute Nacht habt ihr doch einen Mann als Verlust abbuchen müssen.“
„Ach, sie meinen die Sache mit dem Toten“, gibt Gorki leise zurück. „In der Tat, wir hatten einen kleinen Unfall.“
„Was heißt hier Unfall? Der Tote ist doch regelrecht hingerichtet worden.“
„Kann schon sein. Man sollte nicht zu unvorsichtig gegenüber seinem Chef sein.“
„Was hat sich denn der Tote angemaßt, dass er so abgestraft worden ist?“
„Ach, nicht besonders viel. Wollte sich nur etwas Koks auf die Seite schaffen. Das mochte der Boss gar nicht.“
„Aha. Kann ich mir vorstellen. Wo fand denn die Exekution statt und wer hat sie ausgeführt? Soweit ich weiß, macht sich der Boss selbst nicht so schnell die Finger schmutzig. Der muss einen Handlanger dafür benutzt haben. Weißt du, wer es war?“
„Nein, weiß ich nicht. Aber sie haben ganz recht. Es passierte in einem Hinterzimmer des Clubs „Amore“. Einer von Ellermanns Angestellten erledigte das. Das Problem bestand nur darin, wie die Leiche zu entsorgen ist.“
„Und wie habt ihr sie entsorgt, wie du das bezeichnest“, will Lauter jetzt genauer wissen.
„Mit einem Kleintransporter. Das war dann letztlich sehr einfach.“
„Weißt du, wer den Gauner erschossen hat“, stößt Lauter noch einmal nach. Ihm reichen die Details bislang nicht, aber Gorki lässt sich alles nur nach und nach aus der Nase ziehen.
„Ein mir leider namentlich nicht bekannter Neuer in der Szene. Für ihn war das wohl so eine Art Mutprobe, die ihm der Boss auferlegt hat.“
„Und der fuhr dann auch den Kleintransporter“, bohrt der Beamte weiter.
„Nein. Den Wagen fuhr ein Kumpel von mir, der wusste aber erst, dass da eine Leiche drin ist, als sie ausgeladen worden ist.“
„Und wie war das mit dem Schuss?“
„Den gab sicherlich ein zweiter Mann ab, der mit fuhr. Ihn kenne ich allerdings ebenso wenig wie den Todesschützen. Der Schuss sollte die Tat zu diesem Zeitpunkt und an dieser Stelle auf dem Güterbahnhof vortäuschen. Mehr weiß ich wirklich nicht.“
„OK. Danke. Du hast mir sehr geholfen. Mach*s gut und halte weiter die Augen offen. Wenn du noch etwas Wichtiges heraus bekommen solltest, rufe mich einfach an. Meine Handy-Nummer hast du ja.“
Damit verabschiedet sich Lauter von seinem Gesprächspartner und tritt wieder hinaus auf die Straße, um seinen als Spaziergang getarnten Einsatz abzubrechen. Mit seinen Informationen begibt er sich schleunigst ins Polizeipräsidium zurück, um dort seine Kollegen darüber zu unterrichten, was er soeben erfahren hat.
Im Präsidium tauschen die Beamten untereinander ihre bisherigen Erkenntnisse aus, damit jeder auf dem letzten Stand ist. Jetzt steht also fest, dass der Mord tatsächlich in der Stadt, und zwar in diesem Falle in einem Hinterzimmer des berüchtigten Clubs „Amore“, einem stadtbekannten Edelpuff, der u.a. dem Boss Ellermann gehört, passiert ist.
Hauptkommissar Ernst Lauter, der in seine Dienststelle zurück gekehrt und sehr daran interessiert ist, den Fall schnellstmöglich abzuschließen, ordnet eine kurzfristig angesetzte Razzia für den frühen Nachmittag an. Ihn interessiert, ob sich tatsächlich in einem der Hinterzimmer des Bordells Blutflecken entdecken lassen.
Um seinem Ziel näher zu kommen, hat Peters die Spurensicherung gebeten, mit in den Einsatz zu gehen, sich aber anfänglich im Hintergrund zu halten und erst dann zügig die Arbeit aufzunehmen, wenn er das Signal dafür gibt.
Pünktlich um 16.00 Uhr rücken die Beamten aus, unterstützt durch eine Reihe von uniformierten Polizeibeamten, mit denen Peters dem Etablissement überraschend einen Besuch abzustatten gedenkt.
Eine so kurzfristig angesetzte Razzia dürfte dem Boss im Vorfeld nicht bekannt werden, denn die Zeit dafür wäre zu kurz, es sei denn, ein Informant aus den Reihen der Polizei wäre aktiv geworden. Aber das schaltet Peters völlig aus, denn er würde für jeden seiner Leute die Hand ins Feuer legen. Und er täuscht sich da nicht.
Der Überraschungseffekt gelingt. Die Beamten dringen ohne nennenswerten Widerstand seitens des Türstehers oder des Barmannes in den Club ein und verteilen sich im Haus. Der Boss wird allerdings von der Bar aus per Telefon von einem Mitarbeiter schnell gewarnt.
Ehe der Boss allerdings von seinem Schreibtischstuhl hoch kommt und bis zur Tür vordringen kann, hat einer der Kriminalbeamten bereits die Bürotür aufgestoßen und zwingt Ellermann, sich wieder hinzusetzen. Der Boss schaut verblüfft in die Runde und fragt, was das alles soll, schließlich habe er sich nichts zu Schulden kommen lassen.
„Das werden wir ja noch sehen“, entgegnet ihm der Beamte.
Der Boss, ein großer grobschlächtiger Kerl mit finsterem Blick und unsteten Augen, dafür aber auffällig gut gekleidet, rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, denn er kann sich keinen Reim darauf machen, was die ganze Aktion soll. Die letzte Razzia fand doch man gerade erst vor zwei Wochen statt. Und so oft lassen sich die Polizisten nun auch wieder nicht bei ihm blicken.
An die Vorkommnisse der letzten Nacht und dass die Razzia damit im Zusammenhang stehen könnte, auf die Idee kommt der Boss im Moment vor
Schreck nicht. Manchmal ist er trotz all seiner an den Tag gelegten Bauernschläue etwas begriffsstutzig.
Inzwischen ist auch Lauter im Zimmer eingetroffen und nimmt sich des Herrn Ellermann an.
„Wo waren sie in der letzten Nacht, sagen wir so zwischen 23.00 Uhr und Mitternacht?“
Jetzt beginnt es beim Boss zu dämmern. Er will ablenken.
„Was soll die Aktion hier? Bei mir ist doch alles in Ordnung.“
Jetzt wird Lauter lauter.
„Beantworten sie mir bitte meine Frage.“
Ellermann weiß nun, dass er sich etwas einfallen lassen muss. Irgend wie muss die Polizei dahinter gekommen sein, dass die nächtliche Leiche vom Güterbahnhof auf sein Konto geht. Aber wie ist die Polizei dahinter gekommen? Hat ihn eventuell ein eigener Mann verpfiffen? Ellermann zermartert sich seinen Kopf, kommt aber zu keinem Ergebnis.
„Ich war natürlich hier in meinem Büro und habe Abrechnungen überprüft.“
„Zeugen?“
„Ja, mein Hund, aber der kann leider nicht sprechen.“
Seine flapsige Art kommt allerdings bei Lauter nicht gut an. Diese Art mag er überhaupt nicht.
„Herr Ellermann, ich nehme sie vorläufig fest wegen des Verdachts der Anstiftung zur Tötung eines ihrer Mitarbeiter. Ziehen sie sich ihre Jacke über und kommen sie mit.“
Zwei Polizeibeamte nehmen den Boss in ihre Mitte und bugsieren ihn über den Flur, die Treppe hinunter und quer durch den Clubraum hinaus zu einem der Polizei-Fahrzeuge. Alle seine Leute beobachten, wie ihr Boss da abtransportiert wird.
Lauter, der die ganze Aktion leitet, beordert jetzt die Spurensicherung ins Haus.
„Nehmt euch zuerst einmal das Büro des Bosses vor. Danach nehmt die beiden anderen Zimmer daneben in näheren Augenschein. Ich glaube, dass irgend wo hier der Mord erfolgt sein muss. Arbeitet gründlich. Ich wünsche Resultate.“
„Wir arbeiten immer gründlich“, entgegnet ihm der Chef der Spurensicherung beleidigt.
„War nicht so böse gemeint, wie es vielleicht klang“, lenkt Lauter beschwichtigend ein. Er möchte es sich mit den Spusi-Männern nicht verderben. Sie müssen schließlich auch in Zukunft ständig zusammen arbeiten.
Die Spusi beginnt sofort mit der Arbeit, kann aber im Büro des Bosses keinerlei Hinweise darauf finden, dass hier jemand hingerichtet worden ist. Ist auch höchst unwahrscheinlich, denn der Boss wird sich kaum sein eigenes Zimmer verschmutzen lassen. Folglich wird die weitere Spurensuche auf die benachbarten Räume ausgedehnt. Und siehe da, zwei Türen weiter stoßen die Beamten auf Blutflecken, die man man sehr nachlässig zu beseitigen versucht hat. Da war wohl große Eile geboten. Nur hat nicht alles so geklappt, wie vermutlich geplant.
„Kollege Lauter, ich habe etwas entdeckt. Schauen sie mal hier. Hier muss sich eine größere Menge Blut befunden haben. Es ist offensichtlich versucht worden, die Spuren zu beseitigen, allerdings sehr oberflächlich. Hier können wir genau nachweisen, von wem das Blut stammt. Und es würde mich nicht wundern, wenn Blutgruppe und DNA mit den Merkmalen des Toten übereinstimmen.“
„Gute Arbeit, Herr Kollege. Das ist das Glied, das mir noch in der Beweiskette fehlte. Mal sehen, was unser Freund Ellermann uns nachher dazu zu sagen hat.“
Was gesucht wurde ist gefunden. Der Tatort ist ausgemacht. Jetzt heißt es für die Kripo, schlüssige Beweise zusammen zu tragen, um dem Boss endlich das Handwerk zu legen. Eine Zelle wartet bereits seit längerer Zeit auf ihn.
Leider konnten die Beamten dem Boss nichts direkt nachweisen, so dass er immer wieder die Möglichkeit hatte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
„Abrücken“, befiehlt Lauter seinen Leuten, die daraufhin das gastliche Haus wieder verlassen.
Mehr interessiert ihn heute nicht in diesem Gebäude.
Die Prostituierten lungern überall in den unteren Clubräumen herum und zeigen ein leichtes Grinsen über den Abgang ihres Bosses. Es sieht fast so aus, als würden sie sich sogar darüber freuen, nur können sie das nicht so ganz offen zeigen. Das würde hier schon fast an Selbstmord grenzen, denn der Boss greift überaus hart durch, wenn er es für richtig erachtet. Er kennt da kein Pardon. Und der Geschäftsführer wacht höllisch über das Imperium und berichtet stets seinem Boss, wenn er etwas bemerkt, was nicht so ist, wie es seiner Meinung nach sein sollte.
Im Präsidium gibt es jetzt einiges zu tun. Die Beamten möchten gerne dem Boss diesen geplanten Mord nachweisen, wissen aber auch genau, dass dies ein sehr schweres Unterfangen ist. Der Boss ist mit allen Wassern gewaschen und wird sich kaum im Verhör eine Blöße geben, die ihm zum Verhängnis werden könnte. Er ist auf seine Art ein regelrechter Fuchs.
Der Boss wird direkt in einen Vernehmungsraum gebracht, wo er sich brav an einen länglichen Tisch in der Mitte des Raumes auf einen bereit stehenden Stuhl setzen muss. Neben der Tür hat ein Polizist ebenfalls auf einem Stuhl Platz genommen. Außer ihnen beiden befindet sich momentan niemand weiter im Vernehmungszimmer. Durch die große Spiegelscheibe, hinter der Lauter und zwei weitere Beamte sich aufgestellt haben, beobachten sie den verunsicherten Boss.
Ellermann ist sehr nachdenklich geworden. Innerlich lässt er die Vorgänge der letzten Nacht noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Er denkt krampfhaft darüber nach, ob er eventuell irgend einen klitzekleinen Fehler begangen hat, der ihm jetzt zum Verhängnis werden könnte. Bisher ist
es ihm stets gelungen, seine Unschuld nachzuweisen. Das ist auch der Grund dafür, dass er bis jetzt frei war.
Wäre es anders, säße er längst ein.
Dass es bis jetzt nicht dazu gekommen ist, bedauert niemand mehr als der Chef der Drogenfahndung, der sich über Jahre größte Mühe gegeben hat, ihm das Handwerk zu legen. Als er jetzt von dieser Razzia erfährt, jubelt er auf. Vielleicht, wenn nicht über die Drogen, lässt er sich dank dieses mitternächtlichen Mordes überführen. Jeder begeht mal irgend wann einen Fehler. Das perfekte Verbrechen gibt es nun mal nicht. Egal wie, Hauptsache der Boss kann aus dem Verkehr gezogen werden. Fällig ist der gerissene Zuhälter schon längst. Auch ihm wird mal die Stunde schlagen. Manchmal dauert es nur ein bisschen länger.
Nachdem die Beamten hinter der Spiegelscheibe eine Weile den Boss in seiner Nervosität beobachtet und bewusst etwas haben zappeln lassen, begeben sich Lauter und ein weiterer Beamter in das Vernehmungszimmer und nehmen gegenüber Ellermann Platz.
Lauter stellt das Aufnahmegerät an, spricht Name und Dienstgrad sowie Ort und Stunde in das Mikrofon und wendet sich dann an sein Gegenüber.
„Herr Ellermann, sie wissen, warum wir sie heute zur Vernehmung hier hergeholt haben?“
Der Boss spielt auf Zeit.
„Nein“, kommt nur seine kurze Antwort. Er mimt das Unschuldslamm.
„In ihrem Etablissement ist in der letzten Nacht ein Mord erfolgt. Was sagen sie dazu?“
„Nichts. Mir ist von keinem Mord in meinem Hause bekannt. Wie kommen sie denn darauf?“
„Die Fragen stelle ich hier. Ihnen fehlt doch jetzt ein Mitarbeiter, der ihnen auf so unerfreuliche Weise abhanden gekommen ist.“
„Herr Kommissar, ich zähle nicht dauern meine Mitarbeiter, um deren Vollzähligkeit zu überprüfen. Sollte tatsächlich einer abhanden gekommen sein, egal wie, so bedauere ich das natürlich sehr.“
„Polizei-Hauptkommissar. Soviel Zeit muss sein.“
„Meinetwegen auch Polizei-Hauptkommissar“, brummt Ellermann in seinen Bart. „Sie glauben doch nicht etwa, dass ich in meinem Etablissement einen Mann erschossen habe? Das wäre sehr dumm von mir.“
„Da haben sie allerdings recht. Sie sicherlich nicht persönlich. Aber nach unserem Kenntnisstand hat es diesen Mord gegeben.“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Wir schon, Herr Ellermann. Wir haben zwei Zimmer weiter neben ihrem Büro Blutspuren gefunden. Und nun raten sie mal, von wem die stammen.“
„Keine Ahnung. Hat da vielleicht einer aus Versehen Nasenbluten gehabt oder sich in den Finger geschnitten?“
Lauter ist wütend.
„Der einzige, der sich hier in den Finger geschnitten hat, sind sie. Sie glauben doch wohl nicht allen Ernstes, dass sie aus dieser Nummer hier heil heraus kommen?“
„Wieso nicht? Ich habe doch nichts getan.“
„Sie persönlich sicherlich nicht, aber auf ihre Weise indirekt.“
„Und wie soll ich indirekt etwas schlimmes begangen haben?“
„Ganz einfach. Sie haben die Exekution, so muss man das ja wohl nennen, persönlich angeordnet. Und das reicht für eine Verurteilung völlig aus. Wir nennen das schlicht Mittäterschaft bzw. Anstiftung zum Mord.“
Lauter möchte den Boss gerne aus der Reserve kitzeln. Aber Ellermann ist ein harter Brocken, der wirklich mit allen Wassern gewaschen ist, sonst hätte er es nicht so unverschämt lange ohne Verurteilung in der Freiheit aushalten können.
„Habe ich gesagt, dass ich eine solche Anordnung getroffen habe?“
Der Boss grinst und wartet auf Lauters nächste Frage.
„Nein, bis jetzt allerdings noch nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wie wär's, wenn sie jetzt ein Geständnis ablegen würden? Das wäre sicherlich bei der späteren Strafbemessung durch das Gericht von größtem Vorteil.“
„Kann ich mir gut vorstellen, Chef, dass das ein Vorteil wäre, aber für wen? Eher für sie, denn sie würden frohlocken und sich freuen, mich reingelegt zu haben. Aber so läuft das hier nicht. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, da können sie noch so lange herum bohren. Sie werden mir nichts nachweisen
können. Ich sage es nochmals ganz deutlich und langsam zum Mitschreiben: Ich habe nichts getan und bin unschuldig. Verstanden?“
Die letzten Sätze sprach der Boss etwas betont frech und kräftiger aus, als es ihm ansteht. Lauter platzt der Kragen. Er weiß aber auch, dass er ohne ein Geständnis hier nicht weiter kommt.
„Herr Ellermann, gewöhnen sie sich erst einmal einen anderen Ton an und genießen sie unsere besondere Gastfreundschaft in einer Zelle. Dort haben sie alle Zeit der Welt, sich in aller Ruhe zu überlegen, ob eine Kooperation mit uns nicht doch für sie von Vorteil wäre. Raus mit ihm.“
Während Lauter die letzten Worte sprach, betreten zwei Polizeibeamte den Raum und nehmen Ellermann beidseitig unter den Arm, um ihn für die nächsten Stunden in seinem neuen Domizil unterzubringen. Sie führen den Boss hinunter in den Zellentrakt und weisen ihm eine der karg eingerichteten Zellen zu.
„So, hier dürfen sie unsere Gastfreundschaft auskosten.“
Der Boss bleibt mitten im Raum stehen und schaut bedeppert drein. Er hatte gehofft, wieder auf freien Fuß gesetzt zu werden. Mit diesem Ausgang hatte er nicht gerechnet. Einer der beiden Beamten zieht die Zellentür hinter sich zu und schiebt den großen Riegel vor. Dann verlassen die Beamten den Zellentrakt und gehen wieder nach oben.
Derweil schmort der Boss in seiner Zelle und denkt angestrengt darüber nach, was er wohl falsch gemacht haben könnte. Irgendwie muss er hier wieder heraus. Die Beamten dürften seiner Meinung nach keinerlei Gründe haben, ihn für längere Zeit hinter Gitter zu behalten.
Der Boss mag nämlich keine gesiebte Luft.

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